Page 5 - Journal 1 Feber 2020
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MENSCHEN & GLAUBE

organisiert oder eine Kindergruppe begleitet haben, kann            Den Satz „Ich kann gläubig sein – auch ohne Kirche!“ höre
man sofort zum Personalchef einer Firma machen. Sie                 ich jedenfalls oft. Zum Glück ist Gott viel mehr als die Kir-
spüren instinktiv, wie Motivation gelingt, wann es Strenge          che, zum Glück gibt es viele Formen, Gutes zu tun und Gott
und wann Güte benötigt. Es ist einfach motivierend, ihren           zu begegnen. Gott sei Dank brauche ich fürs Beten nicht
Charme und ihre Begeisterung zu erleben. Es freut mich              eine Bestätigung des Pfarrers. Warum ich trotzdem ein
sehr, dass zwei Jugendliche in der Pfarre St. Andrä eine            großer Fan der Kirche bin – nebenbei auch der Kirche mit
Kindergruppe begleiten oder andere ihr musikalisches Ta-            ihren Fehlern? Christentum ist keine Religion zur Selbst-
lent bei Gottesdiensten einbringen. Von manchen lerne ich           verwirklichung des Einzelnen. Wir sind auch für die ande-
Idealismus, auch wenn ich nicht jede Meinung teile. Zum             ren da. Wenn ich zur Hl. Messe gehe und mich in der Kir-
Glück leben viele statt nach dem Motto „Das geht nicht!“            che engagiere, dann tue ich etwas für die Gemeinschaft.
eher nach dem Motto „Das probieren wir
jetzt einfach!“ Meine Erfahrung ist, dass
viele Jugendliche dort, wo sie einen Sinn
sehen, bereit sind, alles zu geben.

Welche Stimmung, welche Haltung gegen-       Foto: © Martin Lugger
über der Kirche erleben Sie bei jungen
Menschen im Bezirk Lienz?
Vieles kann ich noch nicht einschätzen,
weil ich erst seit gut einem Jahr wieder in
Osttirol bin. Das Denken über die Kirche
wird wohl sehr verschieden sein. Ich ver-
mute, dass die Jugendlichen in unseren
Dörfern hauptsächlich im Rahmen von
Feiertagen, bei Begräbnissen und über
Vereine Kontakt zu ihrer Pfarre haben. Ich
wünsche mir, dass diese Kontakte nicht
nur Pflichtübung oder Brauchtum sind.
Meine Aufforderung an sie wäre: „Habt
den Mut, mehr zu tun als eure Pflicht und
vor allem nachzufragen, was am Lebens-
programm Jesu revolutionär ist und euer
Leben bereichern kann!“

Sie waren bis 2018 in Innsbruck tätig. Wie groß ist der Un-         Wie würden Sie denn in diesem Zusammenhang den Un-
terschied zwischen Stadt und Land – auch in Bezug auf               terschied zwischen „gläubig“ und „religiös“ definieren?
Jugend und Kirche?                                                  „Gläubig“ zu sein heißt für die meisten Menschen an Gott
Ich hatte in Innsbruck das Glück, in sehr engagierten Pfar-         oder eine überirdische Kraft zu glauben, die größer ist als
ren zu arbeiten und dort viele MinistrantInnen und pfarr-           ich und mir helfen kann. Der Ausdruck „religiös“ leitet
liche Jugendgruppen zu erleben. Die jährlichen Jugend-              sich vom lateinischen Wort „religare“ ab, was „zurück-
reisen waren nicht nur für die Jugendlichen ein Gewinn,             binden“ und „festbinden“ bedeutet. Als religiöser Mensch
sondern auch für mich. Ich habe den Eindruck, dass die              binde ich mich demnach an Gott und die Gemeinschaft der
jungen Menschen in Innsbruck über mehr Angebote ver-                Kirche und erlebe wie bei einer guten Freundschaft und
fügen als ihre Altersgenossen in Osttirol. Viele Möglich-           Ehe dies nicht als ein Angefesseltsein, sondern als Halt,
keiten zu haben, bedeutet aber auch ein zweischneidiges             Heimat und Sicherheit. Viele bezeichnen sich als gläu-
Schwert: Natürlich sind sie eine Chance, gleichzeitig aber          big, aber nicht als religiös. Sie erleben die Kirche nicht als
auch eine Überforderung. Manche kommen unter die Rä-                Instanz, die ihnen hilft, den Kontakt zu Gott zu pflegen,
der, weil sie alles gleichzeitig tun wollen oder auch müs-          sondern aufgrund ihrer Lehre und Regeln sogar als einen-
sen, weil sie sich alle Türen offenlassen wollen und in             gend. Eines ist klar: Kirche ist kein Selbstzweck. Sie hat die
der großen Anonymität der Stadt niemand da ist, der sie             Aufgabe, Räume für die Gottesbegegnung zu öffnen. Das
auffängt, wenn sie eine Krise erleben. Und Krisen machen            ist unser Auftrag!
einfach einen Teil des Heranwachsens aus. Ich wünsche
allen Jugendlichen, dass sie einen Bereich finden, in dem           Wie sehr hat Kirche als moralische Instanz in Folge der
sie nicht nur konsumieren, sondern aktiv mithelfen kön-             weltweiten Missbrauchsskandale gelitten? Spielt Glaub-
nen. Das aktive Engagement ist heilsam und fördert die              würdigkeit nicht gerade bei jungen Menschen eine enor-
Persönlichkeitsentwicklung.                                         me Rolle?
                                                                    Österreichweite Umfragen zeigen, dass wir als Kirche sehr
Es gibt Studien, dass ein nicht geringer Prozentsatz der            viel an Glaubwürdigkeit verloren haben! Die Kirche als Ge-
Jugendlichen zwar an Gott glaubt und auch betet, aber               samtheit ist für den Großteil der Gesellschaft keine morali-
nichts von Kirchen hält. Wie sehen Sie das?                         sche Instanz mehr. Manches ist sogar kontraproduktiv. In
In der heutigen Gesellschaft verlieren Großinstitutionen            Zeiten der schlimmen Missbrauchsskandale z.B. über Sexu-
immer mehr an Bedeutung. Das gilt auch für die Kirche.              almoral zu reden, das geht, wie ich meine, fast nicht mehr.

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