Page 6 - Journal 3 Mai 2018
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MENSCHEN & GLAUBE
„Beim Pilgern kann die Seele wieder atmen!“
Erfüllung eines Gelübdes, geistliche Vertiefung
oder die Abstattung von Dank. Das Pilgerwesen
war früher auch eng mit der Reliquienvereh-
rung verbunden. In säkularisierten Gesellschaf-
ten wird Pilgern im Unterschied dazu als eine
Form des Wanderns interpretiert oder das Wort
„Pilgern” auch im übertragenen Sinn (z.B. zu ei-
ner Veranstaltung pilgern) eingesetzt.
Wie lässt es sich erklären, dass sich heute
weltweit Hunderttausende aufmachen, um
zu den unterschiedlichsten Zielen zu pilgern?
Wenn unser Leben in Gewohnheit erstarrt oder
erschüttert wird, wenn eine Veränderung an-
steht, dann meldet sich die Sehnsucht, das
Leben und sich selbst wieder mehr zu spüren.
Damit in Verbindung steht sehr oft auch der
Wunsch, der Natur, Menschen und Gott zu be-
gegnen und Orientierung für den eigenen Weg
zu finden. Es geht darum, wieder ein Stück
langsamer unterwegs zu sein und neue Pers-
pektiven zu entdecken. Ich kenne viele, die z.B.
am Ende ihres Berufslebens und am Beginn des
dritten Lebensabschnittes eine Pilgerreise un-
ternehmen.
Der Pilgerweg „Hoch und Heilig“ startet in Lavant. Von hier aus führt die Was spricht noch für die besondere Faszinati-
Route nach St. Korbinian (Gemeinde Assling/Bild oben). Weiter geht es on des Pilgerns?
nach Maria Luggau (Kärnten/Bild Mitte) und über St. Oswald (Kartitsch), Ich denke, es ist einerseits die Erfahrung, dass
das Südtiroler Innichen, Kalkstein (Villgratental) und St. Jakob bis nach Ober- wir mit unseren Füßen verkopfte, ungelöste
mauern (Virgental/Bild unten). Ziel ist die Wallfahrtskirche in Heiligenbut/ Fragen erden und die innere Last Schritt für
Kärnten. Geschätzte Gehzeit für die gesamte Route: 65 Stunden Schritt immer wieder an die geduldig tragende
Erde abgeben können. Es geht aber auch um die
Herr Dekan, was ist mit dem Begriff „Pilgern” Sehnsucht, eine ganzheitliche Persönlichkeit zu
im eigentlichen Wortsinn gemeint? sein. Körper, Geist, Seele und Natur sollen bei
„Pilgern” leitet sich ursprünglich vom lateini- diesem Ansatz, den wir heute auch für unsere
schen Wort „peregrinus“ (oder „peregrinari“ – Lebensgestaltung suchen, zusammenklingen.
„in der Fremde sein“) ab. Im Kirchenlatein be- Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass
zeichnete der Begriff „Pelegrinus“ später eine es im Hebräischen für „Geist, Seele, Wind und
Person, die aus Glaubensgründen in die Fremde Atem“ nur ein Wort – „ruach“ – gibt. Ich sehe
zog, zumeist eine Wallfahrt zu einem Pilgerort dies so, dass die Seele beim Pilgern wieder
unternahm, zu Fuß oder auch unter Verwen- atmen kann!
dung eines Transportmittels. Der Anlass einer
Pilgerfahrt konnte eine auferlegte Buße sein, Wichtig ist beim Pilgern auch das „Fest des
das Bemühen, einen Ablass zu gewinnen, die Ankommens“ am Ziel. Warum?
Wenn die Pilger nach all den Mühen ihr Ziel er-
reicht haben, dürfen sie die Zuversicht haben,
selbst „Erwartete“ zu sein. Wer pilgernd auf-
bricht, wird, so sagt es uns unser Glaube, am
Ziel von dem empfangen, den die jüdisch-christ-
liche Tradition „Ich bin da“, „Vater unser“ und
„die Liebe“ nennt.
Was kann Pilgern bewirken? Verändert es die
Menschen?
Es ist eine weitverbreitete Erkenntnis, dass der,
der eine Pilgerreise unternimmt, nicht als der
zurückkommt, als der er aufgebrochen ist. Im
Gehen des inneren und äußeren Weges verwan-
delt sich etwas im Menschen. Körper und Seele,
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